«De Alto Cedro voy para Marcané, / Llego a Cueto voy para Mayarí…»: Ein
verliebter Wanderer zieht in Kubas wildem Osten von einem Ort zum nächsten,
erinnert sich an Juanica und Chan Chan – Realität und Figuren aus einem
Volksmärchen vermischen sich. Compay Segundos Son «Chan Chan», der aufgenommen
worden ist ins Goldene Buch des kubanischen Kulturerbes, gilt als zweite
Nationalhymne.
Das raffiniert-eingängliche, verspielt-frivole, auf nur zwei Akkorden basierende
Meister-Stück komponierte Compay Segundo im reiferen Alter von 82 Jahren; 1989
hat er es mit dem Cuarteto Patria an einem Festival in Washington, im
Feindesland, uraufgeführt.
Der internationale Durchbruch des Máximo Francisco Repilado Muñoz alias Compay
Segundo kam in den Neunzigerjahren in vier Schritten: 1994 in Sevilla – Compay
war mittlerweile 87 und strotzte vor Vitalität –, 1995 mit der ersten Tournee in
Frankreich und Belgien sowie Einspielungen in Madrid, 1996 mit einer
Europatournee und, als Folge der in Spanien ausgelösten Kuba-Welle, 1997 mit Ry
Cooders CD «Buena Vista Social Club», der zwei Jahre darauf Wim Wenders’
gleichnamiger Film folgte.
Hut, Zigarre und Armónico
Und plötzlich standen sie im Rampenlicht, Omara Portuondo und Ibrahim Ferrer,
Manuel Puntillita Licea und Pío Leyva, Orlando Cachaíto Lopez, Manuel Guajiro
Mirabal, Eliades Ochoa und Rubén González – allen voran dominant und breit
lachend der Senior, der dunkelhäutige Compay Segundo mit seinem hellen Panama
samt tabakbraunem Hutband, in gediegenem Anzug und mit Gitarre. Las leyendas
cubanas, die kubanischen Legenden, die einst populären Trovadores und Soneros,
waren selbst in ihrer Heimat nur noch einem kleinen Kreis von Aficionados
bekannt gewesen.
Die alte Garde knüpfte, als ob mittlerweile nicht Jahrzehnte vergangen wären, an
die Tradition der Zwanziger- und Dreissigerjahre an, beförderte mühelos
Aberhunderte alter Balladen und Sones, Habaneras und Guajiras, Boleros,
Canciones, Danzones, Merengues, Congas und Rumbas aus dem Gedächtnis, brachte
allerorten das Publikum in die Theater und in die Stadien, auf die Beine und aus
dem Häuschen.
Mit Schalk und Passion
Primus inter pares und Methusalem war er seit Beginn des Kuba-Fiebers; lust- und
humorvoll hat Compay Segundo sein Füllhorn ausgeschüttet, hat mit sonorem
Bassbariton, virtuosem Spiel auf dem von ihm entwickelten Armónico, mit
bezwingender Bühnenpräsenz, mit Witz, Selbstironie, Schalk und Passion Millionen
von Menschen in seinen Bann gezogen und mit dem wonnigen Virus der
ostkubanischen ländlichen Musik angesteckt. Weit über hundert Werke seines
immensen Repertoires hat er selber gedichtet und komponiert, das erste mit 15
Jahren, «Yo vengo aquí», eine Elegie an ein Mädchen, das Franciscos Herz raubte.
Der Son hat keine Patina angesetzt.
Compay sang von Liebe und Lust, von Trennung, Schmerz und Erfüllung, von spröden
und willigen Señoritas; er pries die Frauen, die Gärten, das Meer, die Weiler
und Städte der urwüchsigen Provinz Oriente; er entlarvte den schnöden Schein der
Welt, beschwor die heilige Jungfrau von Cobre, die Geister der Yoruba-Götter und
die Bekömmlichkeit von Würsten, Kürbis, Reis und frittierten Bananen. Kräftig
gewürzt, saftvoll, köstlich und stark im Abgang – «sabroso» eben – ist das Ganze
im lockeren Zusammenspiel von Text, Melodie, Harmonie und Instrumentarium. Nicht
zu vergessen: Compay Segundo hat es nach alter Tradition verstanden, seinen
Worten elegant und spitzbübisch den kubanischen erotischen Doppelsinn zu
unterlegen – der Macho denkt an sich selbst zuerst.
Eine bewegte Epoche
Geboren wurde Compay Segundo am 18. November 1907 als viertes Kind einer
Bauernfamilie in Siboney nahe Santiago im heissen Südosten Kubas, dem Tiegel, in
dem die Musiken der ehemaligen Sklaven aus Afrika und Haiti, der Immigranten aus
Andalusien, Galicien, den Kanarischen Inseln, aus Nord-, Mittel- und Südamerika
zusammengeworfen und verschmolzen wurden zu dem, was in den Neunzigerjahren als
afrokubanische Musik die Discos, Konzertsäle und Kinos der übrigen Welt mit
tropischen Melodien, Rhythmen und Emotionen zu füllen begann.
Fünf Jahre vor Francisco Repilados Geburt wurde Kuba offiziell unabhängig von
der Kolonialmacht Spanien, dann folgte die Pseudorepublik mit ihrem
Präsidentenkarussell samt Machtmissbrauch, Korruption, Nepotismus, Zensur,
Folter, Terror, US-Mafia; Fidel Castro entzündete die Fackel der Revolution, die
USA antworteten mit einem bis heute Kuba im Würgegriff haltenden Handelsembargo,
es kam die Kubakrise, schliesslich 1991 die «Spezialperiode in Friedenszeiten»
mit der Rationierung alles Lebensnotwendigen.
Torcedor, Barbero, Sonero
Francisco lernte das Metier des Zigarrendrehers, des Torcedors, das er neben dem
Musikmachen während vierzig Jahren ausübte, und des Barbiers, liess sich,
weitgehend autodidaktisch, auf die Musik des Volkes ein – ohne Zweifel eine
Naturbegabung, denn keiner seiner Vorfahren war musikalisch auffällig.
Ein Mann der zweiten Stunde, dieser Francisco Repilado, der in Santiago de Cuba,
wo seine Familie 1916 Wohnsitz genommen hatte, auf der Klarinette, auf dem Tres
und der grösseren Gitarre zu spielen begann, komponierte und sich 1919 sein
eigenes Instrument baute, Trilina oder Armónico genannt, eine Gitarre mit sieben
Metallsaiten (die dritte doppelt), und die adäquate Spielweise austüftelte.
Jung war er von Dorf zu Dorf gezogen und hatte in Bars, Cafés und an Fiestas
nach alter Sitte der Wandersänger mit seinen Sones einige Pesos gesammelt. Seine
ersten Auftritte mit Kollegen hatte er in den frühen Zwanzigerjahren mit dem
Sexteto Los Seis Ases, mit drei Estudiantinas (Studentengruppen), dann mit dem
Cuarteto Cubanacán, das Anfang der Dreissigerjahre in den neu gegründeten
kommerziellen Radiostationen eine Plattform fand. Mit dem Quinteto Cuban Stars
unternahm Francisco Repilado seine erste Tournee, gastierte anschliessend 1934
in Havanna, und er blieb im Trubel der Hauptstadt mit ihren Bars, Casinos,
Cabarets, Theatern, Festivitäten und dem quirligen musikalischen Leben hängen.
Das Duo «Los Compadres»
Wie kam Francisco zu seinem Pseudonym? Auf dem Land begrüssten sich Kubas Männer
mit Compadre, und so verfielen Lorenzo Hierrezuelo, ebenfalls 1907 in der
Provinz Oriente geboren, und dessen Vetter Francisco Repilado auf die Idee, ihr
1942 gegründetes Duo «Los Compadres» zu nennen. Lorenzo sang die erste Stimme,
war Compadre oder Compay Primero, Francisco die zweite: Compay Segundo. Der Name
ist längst zu einem Monument geworden in der Geschichte der urwüchsig ländlichen
kubanischen Musik.
Dank den neuen Medien
Radio und Schallplatte breitete sich der Ruhm der «Compadres» flächendeckend
aus. Nach einem Streit um Autorenrechte trennten sich die beiden im Herbst 1955.
(Lorenzo Hierrezuelo führte das Duo mit seinem Bruder Reinaldo weiter bis Ende
der Siebzigerjahre. Ein berühmtes Duo bildete Lorenzo zudem mit María Teresa
Vera zwischen 1937 und 1962. Reinaldo Hierrezuelo übrigens leitet die seit 1933
bestehende Gruppe Vieja Trova Santiaguera.)
Francisco Repilado bildete seine eigene Gruppe, bald bekannt als Compay Segundo
y sus Muchachos. Zusammen mit den Sängern Carlos Embale und Pío Leyva spielte
sie 1957 in Havanna ihre erste Platte ein – am Nachmittag des 13. März. Die
Aufnahme musste unterbrochen werden, weil Schüsse und Explosionen ins Studio
hallten: Das Directorio Revolucionario versuchte, Diktator Fulgencio Batistas
Präsidentenpalast zu stürmen.
Die neue und die alte Zeit
Erfolgreicher waren die von Castro angeführten Barbudos, die bärtigen
Revolutionäre: Am 1. Januar 1959 marschierte die Vorhut der Rebellenarmee in
Havanna ein. Das Kultur- und Gesellschaftsleben, in den Augen der neuen
Herrscher und struppigen Haudegen ein kapitalistischer Sündenpfuhl, wurde
trockengelegt. Aufmärsche, Hurrapatriotismus und die linientreuen Politgesänge
der Nueva Trova waren das Gebot der Stunde. Die Musiker im alten Stil standen
für eine überwundene Zeit und mussten sich fortan ihren Unterhalt mit
volksnützlicher Tätigkeit sichern: Compay rollte bei H. Upmann bis 1970 Zigarren
– ohne einen Tag zu fehlen. Im Rentnerdasein begann er mit Lust und Laune wieder
intensiv zu musizieren.
Mittlerweile hatte es der Regierung zu dämmern begonnen, dass den Kuba-Touristen
mit martialischen Marschliedern und lobhudelnden Heldenepen nach dem Muster von
Carlos Puebla wenig gedient war und sie begann, mit bescheidenen Mitteln die in
die Jahre gekommenen, ehedem populären Tocadores, Cantadores, Vokal- und
Instrumentalgruppen und die traditionellen Orchester zu fördern.
Gewandeltes Selbstverständnis
Während mehr als acht Jahrzehnten hat Compay Segundo die musikalischen
Traditionen seiner Heimat, das Schaffen von Grössen wie Juan de Dios Hechevarría,
Pepe Sánchez, Manuel Corona, Salvador Adams, Sindo Garay, Miguel Matamoros, José
Banderas, Ñico Saquito, Benny Moré assimiliert und bereichert, glanzvolle
Kapitel der Musikgeschichte Kubas mitgestaltet.
Doch im eigenen Land gehörte Compay Segundo bis auf Weiteres zum alten Eisen. In
María Teresa Linares’ Publikation «La música y el pueblo» aus dem Jahr 1974
(Editorial Pueblo y Educación, La Habana) kommt Francisco Repilado zu einer
einzigen Namensnennung; im 1981 vorgelegten «Diccionario de la música cubana»
von Helio Orovio (Editorial Letras Cubanas, La Habana) sind Compay Segundo 24
schmale Zeilen gewidmet.
Ganz unverständlich ist dies nicht. Denn Trovadores, Männer und Frauen, die
fantasiereich und eigenständig über einen enormen Schatz an kubanischer
Populärmusik verfügen, sind auch heutzutage keineswegs rar. Nur wenige jedoch
haben nach Jahrzehnten der Plackerei ums Überleben und ohne öffentliche
Auftritte und Anerkennung (und dank Hilfe von aussen) im Alter wieder
zurückfinden können zu Energie und Stimme. Und in Kuba, der Insel junger
Menschen, ist eine der Revolution entfremdete Generation herangewachsen, die an
den Erzeugnissen der Vereinigten Staaten, an der international kompatiblen
Rock-, Pop- und Technomusik mehr Interesse hat als am eigenen kulturellen Erbe
und die eine Trova nur noch im Schlepptau freigebiger Touristen besucht.
Klingendes Weltkulturerbe
Anders im Westen. Kubas melodisch eingängige, formal kleinteilig und durch
Refrain gegliederte, allerdings rhythmisch zuweilen komplexe Musik mit ihrer
Vitalität und Lyrik, ihrem Zwang zum Tanzen, ihren prallen Texten voller
Heiterkeit und Anzüglichkeit, dem Wechsel von Solostimme (Individuum) und Chor
(Kollektiv), ihrer Vielfalt der Instrumente und deren Kombinationen – diese
Musik, den heiteren Seiten des Lebens zugetan, weckt und belebt Kräfte, führt an
die Quellen volkstümlicher Inspiration und bäuerlichen Gesangs, wirkt, als
unverbildet und unkommerziell wahrgenommen, wie manche traditionelle Musik aus
anderen Teilen der Welt als sonniger Gegenpol zum fahlen Einheitsbrei der
Unterhaltungsgiganten.
Der Durchbruch der betagten kubanischen Musiker kam noch zur rechten Zeit: Dank
der Erfahrung und dem Können der Veteraninnen und Veteranen, dank dem Anklang
beim Publikum auf dem Alten Kontinent und dank der nun kaum mehr überschaubaren
Anzahl von Neueinspielungen und Archivausgrabungen ist der Nachwelt ein
klingendes Weltkulturerbe bewahrt worden.
Vida linda, amor lindo
«Que linda es la vida, que lindo es el amor», heisst es in Compay Segundos Son «Ataidi»
(«Las flores de la vida») – «Wie schön ist das Leben, wie schön ist die Liebe».
Compay wollte so alt werden wie seine Grossmutter. Ma Regina, auf Kuba als
Sklavin geboren (erst 1886 wurde in jener spanischen Kolonie die Leibeigenschaft
aufgehoben), paffte Tabacos. Sie brachte es, was des Berichtens wert ist, auf
ein biblisches Alter von 115 Jahren. Trotzdem: Ganz vergessen wäre sie, hätte es
da nicht ihren Lieblingsenkel Francisco gegeben, der als Fünfjähriger zum
Anraucher avancierte, die Zigarren seiner Abuela in Brand setzte. Die Havanna
sollte Compay Segundo sein Leben lang begleiten.
«Ich sitze nicht in der Ecke, um auf den Tod zu warten. Der muss mich schon
suchen», witzelte der hochbetagte Compay, der sein letztes Konzert in
Mexiko-Stadt gab Ende Februar 2003.
Und wenn ihn der Tod finde? «Dann werde ich ihn um noch einige Jährchen bitten.»
Das Ansinnen ist abgelehnt worden, vielleicht weil Compay Segundo, der
Lebenslust und der Daseinsfreude standhaft verfallen, dem Gevatter Knochenmann
keines seiner Lieder gewidmet hat.
CDs mit Compay Segundo (Auswahl)
Yo Vengo Aqui
(1991, Dro East West)
Antología Vol. 1-2
(1996, Dro East West; 2CDs)
Buena Vista Social Club
(1997, World Circuit)
Lo mejor de la vida
(1998, Dro East West)
Calle Salud
(1999, Dro East West)
Los Compadres
(1999, Edenways)
Las Flores de la Vida
(2000, Dro East West)
Duets
(2001, Dro East West)
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