Compay Segundo

(18. November 1907 bis 14. Juli 2003)

Kubas berühmteste zweite Stimme

Compay Segundo,  der Methusalem der legendären kubanischen Soneros


 

Mit 15 Jahren komponierte er seinen ersten Son, mit 90 wurde er zu einem Weltstar, aufgetreten ist er bis kurz vor seinem Tod: Francisco Repilado alias Compay Segundo hat das Erbe der kubanischen Populärmusik mit Passion in die Gegenwart getragen. Am 14. Juli 2003 ist der alterslose Meister in Havanna 95-jährig einem Nierenversagen erlegen.

«De Alto Cedro voy para Marcané, / Llego a Cueto voy para Mayarí…»: Ein verliebter Wanderer zieht in Kubas wildem Osten von einem Ort zum nächsten, erinnert sich an Juanica und Chan Chan – Realität und Figuren aus einem Volksmärchen vermischen sich. Compay Segundos Son «Chan Chan», der aufgenommen worden ist ins Goldene Buch des kubanischen Kulturerbes, gilt als zweite Nationalhymne.

Das raffiniert-eingängliche, verspielt-frivole, auf nur zwei Akkorden basierende Meister-Stück komponierte Compay Segundo im reiferen Alter von 82 Jahren; 1989 hat er es mit dem Cuarteto Patria an einem Festival in Washington, im Feindesland, uraufgeführt.

Der internationale Durchbruch des Máximo Francisco Repilado Muñoz alias Compay Segundo kam in den Neunzigerjahren in vier Schritten: 1994 in Sevilla – Compay war mittlerweile 87 und strotzte vor Vitalität –, 1995 mit der ersten Tournee in Frankreich und Belgien sowie Einspielungen in Madrid, 1996 mit einer Europatournee und, als Folge der in Spanien ausgelösten Kuba-Welle, 1997 mit Ry Cooders CD «Buena Vista Social Club», der zwei Jahre darauf Wim Wenders’ gleichnamiger Film folgte.

Hut, Zigarre und Armónico

Und plötzlich standen sie im Rampenlicht, Omara Portuondo und Ibrahim Ferrer, Manuel Puntillita Licea und Pío Leyva, Orlando Cachaíto Lopez, Manuel Guajiro Mirabal, Eliades Ochoa und Rubén González – allen voran dominant und breit lachend der Senior, der dunkelhäutige Compay Segundo mit seinem hellen Panama samt tabakbraunem Hutband, in gediegenem Anzug und mit Gitarre. Las leyendas cubanas, die kubanischen Legenden, die einst populären Trovadores und Soneros, waren selbst in ihrer Heimat nur noch einem kleinen Kreis von Aficionados bekannt gewesen.

Die alte Garde knüpfte, als ob mittlerweile nicht Jahrzehnte vergangen wären, an die Tradition der Zwanziger- und Dreissigerjahre an, beförderte mühelos Aberhunderte alter Balladen und Sones, Habaneras und Guajiras, Boleros, Canciones, Danzones, Merengues, Congas und Rumbas aus dem Gedächtnis, brachte allerorten das Publikum in die Theater und in die Stadien, auf die Beine und aus dem Häuschen.


Mit Schalk und Passion

Primus inter pares und Methusalem war er seit Beginn des Kuba-Fiebers; lust- und humorvoll hat Compay Segundo sein Füllhorn ausgeschüttet, hat mit sonorem Bassbariton, virtuosem Spiel auf dem von ihm entwickelten Armónico, mit bezwingender Bühnenpräsenz, mit Witz, Selbstironie, Schalk und Passion Millionen von Menschen in seinen Bann gezogen und mit dem wonnigen Virus der ostkubanischen ländlichen Musik angesteckt. Weit über hundert Werke seines immensen Repertoires hat er selber gedichtet und komponiert, das erste mit 15 Jahren, «Yo vengo aquí», eine Elegie an ein Mädchen, das Franciscos Herz raubte. Der Son hat keine Patina angesetzt.

Compay sang von Liebe und Lust, von Trennung, Schmerz und Erfüllung, von spröden und willigen Señoritas; er pries die Frauen, die Gärten, das Meer, die Weiler und Städte der urwüchsigen Provinz Oriente; er entlarvte den schnöden Schein der Welt, beschwor die heilige Jungfrau von Cobre, die Geister der Yoruba-Götter und die Bekömmlichkeit von Würsten, Kürbis, Reis und frittierten Bananen. Kräftig gewürzt, saftvoll, köstlich und stark im Abgang – «sabroso» eben – ist das Ganze im lockeren Zusammenspiel von Text, Melodie, Harmonie und Instrumentarium. Nicht zu vergessen: Compay Segundo hat es nach alter Tradition verstanden, seinen Worten elegant und spitzbübisch den kubanischen erotischen Doppelsinn zu unterlegen – der Macho denkt an sich selbst zuerst.

Eine bewegte Epoche

Geboren wurde Compay Segundo am 18. November 1907 als viertes Kind einer Bauernfamilie in Siboney nahe Santiago im heissen Südosten Kubas, dem Tiegel, in dem die Musiken der ehemaligen Sklaven aus Afrika und Haiti, der Immigranten aus Andalusien, Galicien, den Kanarischen Inseln, aus Nord-, Mittel- und Südamerika zusammengeworfen und verschmolzen wurden zu dem, was in den Neunzigerjahren als afrokubanische Musik die Discos, Konzertsäle und Kinos der übrigen Welt mit tropischen Melodien, Rhythmen und Emotionen zu füllen begann.

Fünf Jahre vor Francisco Repilados Geburt wurde Kuba offiziell unabhängig von der Kolonialmacht Spanien, dann folgte die Pseudorepublik mit ihrem Präsidentenkarussell samt Machtmissbrauch, Korruption, Nepotismus, Zensur, Folter, Terror, US-Mafia; Fidel Castro entzündete die Fackel der Revolution, die USA antworteten mit einem bis heute Kuba im Würgegriff haltenden Handelsembargo, es kam die Kubakrise, schliesslich 1991 die «Spezialperiode in Friedenszeiten» mit der Rationierung alles Lebensnotwendigen.

Torcedor, Barbero, Sonero

Francisco lernte das Metier des Zigarrendrehers, des Torcedors, das er neben dem Musikmachen während vierzig Jahren ausübte, und des Barbiers, liess sich, weitgehend autodidaktisch, auf die Musik des Volkes ein – ohne Zweifel eine Naturbegabung, denn keiner seiner Vorfahren war musikalisch auffällig.

Ein Mann der zweiten Stunde, dieser Francisco Repilado, der in Santiago de Cuba, wo seine Familie 1916 Wohnsitz genommen hatte, auf der Klarinette, auf dem Tres und der grösseren Gitarre zu spielen begann, komponierte und sich 1919 sein eigenes Instrument baute, Trilina oder Armónico genannt, eine Gitarre mit sieben Metallsaiten (die dritte doppelt), und die adäquate Spielweise austüftelte.

Jung war er von Dorf zu Dorf gezogen und hatte in Bars, Cafés und an Fiestas nach alter Sitte der Wandersänger mit seinen Sones einige Pesos gesammelt. Seine ersten Auftritte mit Kollegen hatte er in den frühen Zwanzigerjahren mit dem Sexteto Los Seis Ases, mit drei Estudiantinas (Studentengruppen), dann mit dem Cuarteto Cubanacán, das Anfang der Dreissigerjahre in den neu gegründeten kommerziellen Radiostationen eine Plattform fand. Mit dem Quinteto Cuban Stars unternahm Francisco Repilado seine erste Tournee, gastierte anschliessend 1934 in Havanna, und er blieb im Trubel der Hauptstadt mit ihren Bars, Casinos, Cabarets, Theatern, Festivitäten und dem quirligen musikalischen Leben hängen.

Das Duo «Los Compadres»

Wie kam Francisco zu seinem Pseudonym? Auf dem Land begrüssten sich Kubas Männer mit Compadre, und so verfielen Lorenzo Hierrezuelo, ebenfalls 1907 in der Provinz Oriente geboren, und dessen Vetter Francisco Repilado auf die Idee, ihr 1942 gegründetes Duo «Los Compadres» zu nennen. Lorenzo sang die erste Stimme, war Compadre oder Compay Primero, Francisco die zweite: Compay Segundo. Der Name ist längst zu einem Monument geworden in der Geschichte der urwüchsig ländlichen kubanischen Musik.

 

Das Duo «Los Compadres» mit Compay Segundo (rechts) und seinem Vetter Lorenzo Hierrezuelo alias Compay Primero (historische Aufnahme aus dem Booklet der CD «Compay Segundo – Los Compadres»).

Dank den neuen Medien Radio und Schallplatte breitete sich der Ruhm der «Compadres» flächendeckend aus. Nach einem Streit um Autorenrechte trennten sich die beiden im Herbst 1955. (Lorenzo Hierrezuelo führte das Duo mit seinem Bruder Reinaldo weiter bis Ende der Siebzigerjahre. Ein berühmtes Duo bildete Lorenzo zudem mit María Teresa Vera zwischen 1937 und 1962. Reinaldo Hierrezuelo übrigens leitet die seit 1933 bestehende Gruppe Vieja Trova Santiaguera.)

Francisco Repilado bildete seine eigene Gruppe, bald bekannt als Compay Segundo y sus Muchachos. Zusammen mit den Sängern Carlos Embale und Pío Leyva spielte sie 1957 in Havanna ihre erste Platte ein – am Nachmittag des 13. März. Die Aufnahme musste unterbrochen werden, weil Schüsse und Explosionen ins Studio hallten: Das Directorio Revolucionario versuchte, Diktator Fulgencio Batistas Präsidentenpalast zu stürmen.

Die neue und die alte Zeit

Erfolgreicher waren die von Castro angeführten Barbudos, die bärtigen Revolutionäre: Am 1. Januar 1959 marschierte die Vorhut der Rebellenarmee in Havanna ein. Das Kultur- und Gesellschaftsleben, in den Augen der neuen Herrscher und struppigen Haudegen ein kapitalistischer Sündenpfuhl, wurde trockengelegt. Aufmärsche, Hurrapatriotismus und die linientreuen Politgesänge der Nueva Trova waren das Gebot der Stunde. Die Musiker im alten Stil standen für eine überwundene Zeit und mussten sich fortan ihren Unterhalt mit volksnützlicher Tätigkeit sichern: Compay rollte bei H. Upmann bis 1970 Zigarren – ohne einen Tag zu fehlen. Im Rentnerdasein begann er mit Lust und Laune wieder intensiv zu musizieren.

Mittlerweile hatte es der Regierung zu dämmern begonnen, dass den Kuba-Touristen mit martialischen Marschliedern und lobhudelnden Heldenepen nach dem Muster von Carlos Puebla wenig gedient war und sie begann, mit bescheidenen Mitteln die in die Jahre gekommenen, ehedem populären Tocadores, Cantadores, Vokal- und Instrumentalgruppen und die traditionellen Orchester zu fördern.

Gewandeltes Selbstverständnis

Während mehr als acht Jahrzehnten hat Compay Segundo die musikalischen Traditionen seiner Heimat, das Schaffen von Grössen wie Juan de Dios Hechevarría, Pepe Sánchez, Manuel Corona, Salvador Adams, Sindo Garay, Miguel Matamoros, José Banderas, Ñico Saquito, Benny Moré assimiliert und bereichert, glanzvolle Kapitel der Musikgeschichte Kubas mitgestaltet.

Doch im eigenen Land gehörte Compay Segundo bis auf Weiteres zum alten Eisen. In María Teresa Linares’ Publikation «La música y el pueblo» aus dem Jahr 1974 (Editorial Pueblo y Educación, La Habana) kommt Francisco Repilado zu einer einzigen Namensnennung; im 1981 vorgelegten «Diccionario de la música cubana» von Helio Orovio (Editorial Letras Cubanas, La Habana) sind Compay Segundo 24 schmale Zeilen gewidmet.

Ganz unverständlich ist dies nicht. Denn Trovadores, Männer und Frauen, die fantasiereich und eigenständig über einen enormen Schatz an kubanischer Populärmusik verfügen, sind auch heutzutage keineswegs rar. Nur wenige jedoch haben nach Jahrzehnten der Plackerei ums Überleben und ohne öffentliche Auftritte und Anerkennung (und dank Hilfe von aussen) im Alter wieder zurückfinden können zu Energie und Stimme. Und in Kuba, der Insel junger Menschen, ist eine der Revolution entfremdete Generation herangewachsen, die an den Erzeugnissen der Vereinigten Staaten, an der international kompatiblen Rock-, Pop- und Technomusik mehr Interesse hat als am eigenen kulturellen Erbe und die eine Trova nur noch im Schlepptau freigebiger Touristen besucht.

Klingendes Weltkulturerbe

Anders im Westen. Kubas melodisch eingängige, formal kleinteilig und durch Refrain gegliederte, allerdings rhythmisch zuweilen komplexe Musik mit ihrer Vitalität und Lyrik, ihrem Zwang zum Tanzen, ihren prallen Texten voller Heiterkeit und Anzüglichkeit, dem Wechsel von Solostimme (Individuum) und Chor (Kollektiv), ihrer Vielfalt der Instrumente und deren Kombinationen – diese Musik, den heiteren Seiten des Lebens zugetan, weckt und belebt Kräfte, führt an die Quellen volkstümlicher Inspiration und bäuerlichen Gesangs, wirkt, als unverbildet und unkommerziell wahrgenommen, wie manche traditionelle Musik aus anderen Teilen der Welt als sonniger Gegenpol zum fahlen Einheitsbrei der Unterhaltungsgiganten.

Der Durchbruch der betagten kubanischen Musiker kam noch zur rechten Zeit: Dank der Erfahrung und dem Können der Veteraninnen und Veteranen, dank dem Anklang beim Publikum auf dem Alten Kontinent und dank der nun kaum mehr überschaubaren Anzahl von Neueinspielungen und Archivausgrabungen ist der Nachwelt ein klingendes Weltkulturerbe bewahrt worden.

Vida linda, amor lindo

«Que linda es la vida, que lindo es el amor», heisst es in Compay Segundos Son «Ataidi» («Las flores de la vida») – «Wie schön ist das Leben, wie schön ist die Liebe». Compay wollte so alt werden wie seine Grossmutter. Ma Regina, auf Kuba als Sklavin geboren (erst 1886 wurde in jener spanischen Kolonie die Leibeigenschaft aufgehoben), paffte Tabacos. Sie brachte es, was des Berichtens wert ist, auf ein biblisches Alter von 115 Jahren. Trotzdem: Ganz vergessen wäre sie, hätte es da nicht ihren Lieblingsenkel Francisco gegeben, der als Fünfjähriger zum Anraucher avancierte, die Zigarren seiner Abuela in Brand setzte. Die Havanna sollte Compay Segundo sein Leben lang begleiten.

«Ich sitze nicht in der Ecke, um auf den Tod zu warten. Der muss mich schon suchen», witzelte der hochbetagte Compay, der sein letztes Konzert in Mexiko-Stadt gab Ende Februar 2003.

Und wenn ihn der Tod finde? «Dann werde ich ihn um noch einige Jährchen bitten.» Das Ansinnen ist abgelehnt worden, vielleicht weil Compay Segundo, der Lebenslust und der Daseinsfreude standhaft verfallen, dem Gevatter Knochenmann keines seiner Lieder gewidmet hat.


CDs mit Compay Segundo (Auswahl)

Yo Vengo Aqui (1991, Dro East West)
Antología Vol. 1-2 (1996, Dro East West; 2CDs)
Buena Vista Social Club (1997, World Circuit)
Lo mejor de la vida (1998, Dro East West)
Calle Salud (1999, Dro East West)
Los Compadres (1999, Edenways)
Las Flores de la Vida (2000, Dro East West)
Duets (2001, Dro East West)


 

 


Start: 03.11.2006




¡Ya!